Der rätselhafte Fall Dr. Crippen – Liebe, Lügen und ein Keller voller Geheimnisse

London, Winter 1910. In der Hilldrop Crescent im Norden der Stadt lebt das Ehepaar Dr. Hawley Harvey Crippen und seine Frau Belle Elmore, eine Sängerin mit großen Ambitionen, jedoch mäßigem Erfolg. Auf den ersten Blick scheint alles normal – doch hinter den verschlossenen Türen bahnt sich ein Drama an, das bald als einer der berüchtigtsten Mordfälle Englands in die Geschichte eingehen wird.
Am Abend des 31. Januar 1910 lädt das Paar zwei enge Freunde, Paul und Clara Martinetti, zu einem festlichen Dinner ein. Alles scheint harmonisch – bis eine kleine Szene entsteht: Belle tadelt ihren Mann vor den Gästen wegen einer Lappalie. Kurz nach Mitternacht verabschieden sich die Freunde. Es ist das letzte Mal, dass Belle lebend gesehen wird.
Eine Frau verschwindet – eine andere tritt ins Licht
In den folgenden Tagen fragen Bekannte nach Belle. Dr. Crippen erklärt zunächst, seine Frau sei nach Amerika gereist. Wenige Wochen später berichtet er, sie sei dort krank geworden und schließlich gestorben. Doch während die Geschichten immer widersprüchlicher werden, tritt eine neue Frau auf die Bühne: Crippens junge Sekretärin Ethel Le Neve. Schon bald trägt sie Schmuckstücke, die eindeutig Belle gehörten, und zieht ins Haus ein. Freunde werden misstrauisch – die Polizei wird eingeschaltet.
Am 8. Juli 1910 sucht Chefinspektor Walter Dew das Haus auf. Crippen wirkt nervös, seine Erklärungen widersprüchlich. Einen Tag später ist er spurlos verschwunden – zusammen mit Ethel, als „Vater und Sohn“ verkleidet.
Bei einer erneuten Durchsuchung des Hauses stoßen Beamte im Keller auf lockere Ziegel. Darunter: Überreste eines weiblichen Körpers. Kopf und Gliedmaßen fehlen, doch Spuren von Gift und Stoffreste eines Nachthemdes weisen eindeutig auf eine Ablage nach 1908 hin. Nun ist klar: Belle Elmore ist nicht nach Amerika gereist.
Währenddessen reisen Crippen und Ethel über Belgien nach Antwerpen und gehen an Bord der SS Montrose mit Kurs auf Kanada. Doch der Kapitän des Schiffes bemerkt das sonderbare Paar. Per Funk – eine damals neue Technik – sendet er eine Nachricht an Scotland Yard.
Chefinspektor Dew nimmt die Verfolgung auf und überquert mit einem schnelleren Schiff den Atlantik. Ende Juli, im Hafen von Quebec, kommt es zur spektakulären Festnahme. Ganz London verfolgt gebannt die Rückkehr der Verdächtigen.
Im Oktober 1910 steht Dr. Crippen vor Gericht. Seine Verteidigung: Die Leiche im Keller sei nicht die seiner Frau. Doch die Beweise sind erdrückend – ein Stück Haut mit einer charakteristischen Narbe, Spuren des von ihm kurz zuvor gekauften Giftes Hyoscin, und die Textilreste, die zweifelsfrei in seine Zeit passen. Nach nur dreißig Minuten Beratung spricht die Jury das Urteil: schuldig.
Am 23. November 1910 wird Crippen in Pentonville hingerichtet. Ethel Le Neve hingegen wird freigesprochen, nimmt später einen neuen Namen an und verschwindet aus der Öffentlichkeit.
Ein Mordfall mit Nachhall
Der Fall Crippen gilt bis heute als einer der spektakulärsten Prozesse des frühen 20. Jahrhunderts. Er war nicht nur ein Drama aus Eifersucht, Betrug und Gier, sondern auch der erste Kriminalfall, bei dem moderne Technik – die drahtlose Telegrafie – entscheidend zur Festnahme beitrug.
Und doch bleibt eine Frage offen: War Dr. Crippen tatsächlich der eiskalte Täter, als der er verurteilt wurde – oder wurde die Wahrheit niemals ganz ans Licht gebracht?